Ausstellung

Risiko mit Gesicht – Ansprache zur Vernissage am 12.5.2022

im kunst- und denkraum _artundweise, Bern

von Peter Fischer

Liebe Kunstfreundinnen und Kunstfreunde
Liebe Menschenfreundinnen und Menschenfreunde

Ja, ich glaube, ich darf sie am heutigen Anlass durchaus so begrüssen.

Am 16. März 2020 gründeten Brigitt Bürgi, Andreas Weber und ich die Kulturinitiative «die zukunft kuratieren». Vom ersten Lockdown überrumpelt, wollten wir Künstlerinnen und Künstler ermuntern, nicht klein beizugeben, sich nicht zurückzuziehen, sondern mit ihrer Kunst das zu tun, was die Kunst am besten kann: Stellung beziehen und uns in unserer Orientierung in der Welt Beihilfe leisten. Je schlimmer die Welt und je prekärer die Situation, umso dringlicher die Rolle der Kunstschaffenden. Und umso unverständlicher die zu Beginn der Pandemie verbreitete Rede von der fehlenden Systemrelevanz und somit von der Verzichtbarkeit der Kultur, und es kommt noch schlimmer: Die diesbezügliche Ignoranz gipfelt heute – man glaubt es kaum – in der Forderung, das Militärbudget auf Kosten der Kulturausgaben aufzustocken. Ich fürchte, wir werden weiterhin auf die Barrikaden steigen müssen.

Wie auch immer, zurück zu vor zwei Jahren: Unser Aufruf, «die Zukunft zu kuratieren», wurde erhört. Eine der ersten, die sich meldeten, war eine uns unbekannte Künstlerin aus Lützelflüh namens Manuela Brügger. Sie erzählte uns von einer konkreten Idee. Diese war einfach und sie war bestechend:

«Ich trete aus meinem Atelier,» sagte sie, «und werfe einen Stein ins Wasser… Die Zahlen der Statistiken und die pauschalen Kategorisierungen sollen ein Gesicht erhalten: Menschen aus der «Risikogruppe» kopieren sich selbst mit Hilfe eines Fotokopiergeräts. Ein Körper und ein Leben statt anonymer Teil einer Masse. Die kopierten Gesichter male ich im Massstab 1:1 auf eine Holztafel. Diesen Arbeitsprozess habe ich während des Lockdowns begonnen und will ihn nun weiterführen, aber nicht alleine.»

Wir haben Manuelas Aufruf dann auf unserer Webseite und im Newsletter publiziert. Er liest sich so: «Ich suche KünstlerInnen die helfen zu malen. Weitere Leute, die helfen zu kopieren. Vernetzte Menschen, die helfen zu organisieren, Geräte, Materialien und vielleicht auch finanzielle Mittel zu beschaffen. Menschen die helfen möchten, belastende Corona-Erfahrungen umzuwandeln in Begegnungen, Gespräche, in Miteinander, in Arbeit, wo vielleicht Stillstand ist. Gemeinsam Wege schaffen, die irgendwo hinführen. Hast du auch Lust Wellen zu schlagen? Dann freue ich mich dich kennen zu lernen!»

Und heute stehen wir zusammen hier, hier vor 123 Bildern, die 123 Mal «Risiko mit Gesicht» zeigen – ist das nicht wunderbar? Unbedingt! Aber ein Wunder ist es nicht, denn du, Manuela, hast mit Geschick, mit Liebe, Begeisterung und Hartnäckigkeit dein Ding durchgezogen. Und dein Ding ist eben nicht einfach dein Ding, sondern es ist das Ding von uns allen, von so vielen Beteiligten, Helferinnen, Künstlerinnen und zuallererst das Ding der Exponenten und Exponentinnen der sogenannten Risikogruppen, dieser neuen schicksalshaften Gesellschaftskategorie, die von der Gesundheitspolitik vor zwei Jahren definiert worden ist.

«Kunst macht sichtbar», sagte Paul Klee vor über 100 Jahren, Kunst kann aber noch mehr: Kunst ist Verwandlung. Nicht erst, seit die Kulturförderszene sich die modischen Schlagworte auf ihre Banner geschrieben hat, die da heissen «Partizipation» oder «Transformation» und neuerdings «Diversität», was doch nur heisst, den alten Wein in neue Schläuche abzufüllen. Der alte Wein der Kunst, der mundet aber auch ohne Schläuche gut, denn Kunst war schon immer Transformation. Ich will hier nicht zu sehr ins Theoretische abschweifen, aber vergessen wir nicht, dass der künstlerische Ausdruck nie sich darin erschöpft, einfach Abbild einer existierenden Wirklichkeit zu sein, sondern schon seit Menschengedenken – in einem Umwandlungsprozess – neue Realitäten erschafft.

Manuelas «Risiko mit Gesicht» ist dafür geradezu ein Musterbeispiel. Am Anfang des Prozesses steht die sogenannte Risikoperson. Sie fertigt von sich selbst eine Art Selfie an, indem sie ihr Gesicht auf die Glasscheibe des Fotokopierers legt und es elektronisch scannt. Ein technisch interessanter Vorgang, denn er spielt sich in einer Kombination von optischen und digitalen Prozessen ab, und zwar im Bauch des Kopierers, in einem durch eine Glasscheibe abgetrennten isolierten Raum. Das schwarzweiss auf Papier gedruckte Selbstbildnis wird anschliessend von einer Künstlerin oder einem Künstler in ihrer oder seiner spezifischen Technik in eine Malerei übertragen. Wie das herauskommt, das sehen wir hier an dieser Wand. Eine ziemlich weit gehende Transformation.

Das Schlussresultat kann gegenüber der realen Erscheinung der porträtierten Person gewaltig differieren. Aber die Transformation ist nicht nur visueller Natur. Lassen wir doch kurz Revue passieren, was rein physisch und zwischenmenschlich alles passiert ist: Die Risikoperson wurde angesprochen, setzte sich mehr oder weniger spontan mit der Idee dieses Kunstprojekts auseinander, hat sich entschieden mitzumachen und findet sich plötzlich in der Situation, ihr Gesicht auf die kalte Glasscheibe zu legen und durchleuchten zu lassen. Was nun folgt – als Fortsetzung des Prozesses – möchte ich als die wärmende Phase bezeichnen: Eine Künstlerin oder ein Künstler befasst sich mit dem Bild, nimmt sich viel Zeit, versucht sich in die abgebildete Persönlichkeit einzufühlen und transferiert die damit einhergehenden Vorstellungen und Gefühle in Formen und Farben auf die Holztafel. Nicht einfach als Abbild, sondern als eine Neukreation aus einem Akt absoluter Empathie heraus. Welche Verwandlung! Welche Verwandlung eines Stigmas in eine Ehrerbietung.

Und eben doch wunderbar: Denn die Verwandlung beruht auf eine Nähe «in Zeiten der Körperangst und Körperferne», um eine Charakterisierung des Autors Samuel Geiser aus seinem Corona-Journal zu verwenden.

Manuela Brügger hat ihr Projekt über die ganze Pandemiezeit hinweg verfolgt, zwei Mal in Bern – im Oktober 2020 und März 2021 im, bzw. vor dem Kunsthaus 9a im Breitenrain – danach, im April nochmals in Bern in der Villa Bernau, und schliesslich im Mai und Juni 2021 in Solothurn und in Burgdorf.

21 Künstlerinnen und Künstler waren beteiligt, sie haben 123 Personen gemalt, ihre Porträts sind hier versammelt. Es sind 123 individuelle Zeugnisse von 123 Persönlichkeiten, und zusammen bilden ein eindrückliches Dokument einer Ausnahmezeit und davon, wie unsere Gesellschaft versucht hat, damit umzugehen. Darüber hinaus sind sie der lebendige Beweis der Wirkkraft der Kunst, denn sie haben – in welcher Form auch immer – bei allen Beteiligten Eindrücke hinterlassen.

Liebe Manuela, liebe Künstlerinnen und Künstler, dafür danken wir Dir und Euch sehr herzlich! Es lebe die Kunst!